Ein Debattenbeitrag von Christian Schubert, OV-Vorsitzender, zum Grünen Wahlergebnis bei der Europawahl 2024
So darf es nicht weitergehen!
Das gestrige Wahlergebnis zur Europawahl war mehr als nur ein Denkzettel, es war eine Klatsche. Eine Klatsche, aus der dringende Lehren zu ziehen sind.
1. Junge Menschen:
Bei den U26 sind wir von einer Zustimmung von 34% auf 11% gesunken. Knapp zwei Drittel haben wir verloren. Das ist dramatisch. Schauen wir uns die Wählerwanderung an, würde ich drei Gründe herausarbeiten. Zum einen Klimapolitik und Grüne Politik als wahrgenommener Kostentreiber in einer Zeit, wo Reallöhne sinken und alles teurer wird. Wir müssen in unserem Ansatz, in unseren Debatten und in unserem Denken endlich dazu kommen, dass Ökologie, Ökonomie und Soziales in eine Balance zu bringen sind und das eine ohne die anderen zwei nicht nachhaltig funktioniert. Zum anderen sind es Menschen, die uns mit der Hoffnung gewählt haben, ambitionierten (man könnte sagen radikaleren) Klimaschutz umzusetzen und die enttäuscht von Kompromissen und nicht-Fortschritten sind. Zum dritten jene, die Grüne durch verschiedene andere Themen nicht (mehr) wählen. Vielfach war beispielsweise zu lesen, dass die Haltung zum Krieg in Gaza zur Nicht-Wahl geführt hat.
Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich hierbei um eine Generation handelt, die mit am stärksten von den Corona-Maßnahmen betroffen waren und die in der politischen Debatte während und nach der Pandemie immer wieder vernachlässigt wurden.
Natürlich braucht es Sichtbarkeit in den Sozialen Medien und politische Bildung, aber es braucht auch charismatische Identifikationspersonen und ein Ansprechen der Situation und Probleme von jungen Menschen. Da interessiert weniger der parteipolitische Streit, sondern was konkret getan werden soll und wie Probleme gelöst werden.
2. Themenkompetenz:
Ja, im Bereich Klima- und Umwelt und auch im Bereich Außenpolitik haben wir weiterhin Kompetenzzuschreibungen. Doch sind diese Themen nicht primär wahlentscheidend, sacken wir ab. Geht es um Themen wie Migration, Innere Sicherheit, Wirtschaft und Rente, werden diese Themen entweder gemieden oder oft in Talk-Shows mit oberflächlichen Statements abgewiegelt. Inhaltlich machen unsere Fachpolitiker:innen (natürlich sieht man einige positiver und andere negativer) da keine schlechte Arbeit, aber beim Transportieren dieser Positionen in den politischen Raum geht inhaltliche Tiefe verloren. Angenehme Ausnahme war die Sendung bei Illner (Duell Habeck-Merz) zur Wirtschaftspolitik.
Andere Themen (Migration, Gaza, Innere Sicherheit) werden wie eine heiße Kartoffel behandelt und klare Statements und Positionen sind zu wenig hörbar.
3. Zeitgeist:
Wir hatten von ca. 2018 bis Frühling 2021 einen grünen Höhenflug. Ermüdung nach vielen Merkel-GroKo Jahren, Klimaschutz als Top-Thema, die Sehnsucht nach einem frischen Wind und eine personell wie inhaltlich neu aufgestellte, hochmotivierte Partei. Immer mehr Kritik am Corona-Kurs, vermeidbare Fehler bei der Bundestagswahl, Krieg in der Ukraine, Energiekrise, Wirtschaftskrise, steigende Preise, Fachkräftemangel, Extremwetterereignisse, Krieg in Gaza, Taten wie in Mannheim – die Liste an Bedrücktheit und Weltschmerz ist endlos lang. Und einem Gefühl von hoffnungsvollem Anpacken, Lust auf Veränderung ist einem Gefühl von immer mehr Krisen und zu viel Unsicherheiten gewichen. In Krisenzeiten wechselt der Fokus vieler Menschen von gemeinschaftlichen Gesellschaftlichen Herausforderungen hin zu den ganz persönlichen – oftmals wirtschaftlichen – Problemen. Eine präventive Politik, die Krisen der Zukunft abmildern oder verhindern soll, wird aber zu oft als Ursache für die aktuellen, wenig-abstrakten Krisen wahrgenommen.
4. Vision:
Verbunden mit dem Zeitgeist haben die damaligen Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck es geschafft, der Grünen Partei eine neue Vision zu geben. Inhaltlich aus der Nische heraus, Lust auf Veränderung, Begeisterung und ein anderes Politikverständnis. Optimismus statt Dystopie. Das prägte auch den ersten sehr positiv aufgenommenen Geist der Ampel. Eine Fortschrittskoalition mit geeinter Vision, wo Differenzen beim Weg dorthin nur Kleinigkeiten sein sollten, wo es nicht um parteipolitische Punktgewinne gehen sollte, sondern die Koalition als Gemeinschaftsprojekt gesehen wird. Ist das Ansehen der Koalition gut, ist es auch das Ansehen der Parteien. Dieser Geist ist schnell und viel zu schnell verflogen.
Mit ihm die Vision des positiven Blicks auf das Anpacken der großen Herausforderungen unserer Zeit. Stattdessen verheddern wir uns zu oft in Zankereien und Kleinigkeiten. Zu oft verlieren wir daher das „Große Ganze“ aus dem Blick. Diese Vision ist etwas, was vereinen und somit eine Zersplitterung der Stimmen zu vielen Klein- und Kleinstparteien verhindern kann.
5. Pragmatismus:
Für die einen sind Kompromisse der Wesenskern der Demokratie, für andere immer verbunden mit dem Aufgeben von Idealen. Wir müssen dazu kommen, dass Kompromisse und damit Lösungen etwas Gutes und Normales sind. Es geht darum dann gemeinsam voranzukommen und umzusetzen, statt um die Frage, ob sich Partei A oder B mehr durchgesetzt hat.
Zu oft haben Bürgerinnen und Bürger den Eindruck, dass Gesetze und Vorhaben nicht durchdacht sind. Es ist nicht immer klar, was das Ziel ist, wie es erreicht werden soll, wer es mit welchem Geld und Personal umsetzen soll. Gerade bei Aufgabenübertragungen an die Kommunen bleibt oftmals die Frage aus, woher die Kapazitäten, die für Übernahme der Aufgabe notwendig sind, kommen sollen und es wird nicht bedacht, für was die Kapazitäten dann wegfallen. Oftmals entsteht ebenfalls der Eindruck, dass der letzte Schritt vor dem ersten erledigt wird. Als Beispiel hierzu könnte man die fehlende Kommunale Wärmeplanung oder die fehlende Ladeinfrastruktur nennen. Diese Dinge sind erklärbar, da man verlorene Zeit aufholen muss, doch es führt zu Unverständnis. Unverständnis führt zu weniger Akzeptanz und weniger Akzeptanz zu Misstrauen. Kurzum: Mir fehlt oft eine Lösungs- und Umsetzungskompetenz. Das hängt auch mit einer vermissten Personalstrategie zusammen.
6. Streit:
Streit, Debatte, der Wettstreit um Ideen, Konzepte und Umsetzungsstrategien macht Politik aus. Er muss im Kern stehen. Streit sollte nicht, und das wird er zu oft, in der Hoffnung des Punktegewinns angezettelt werden. Der ständige Streit im Bund in Krisenzeiten sogt für Unsicherheit, Zweifeln an der Handlungsfähigkeit und wir der Verantwortung der Regierung dieses Landes im Auge vieler Wählerinnen und Wähler nicht gerecht. Die Erwartung an andere und an uns selbst muss sein, nicht nur einen Vorschlag und ein Vorgehen zu kritisieren, sondern eine Alternative vorzulegen.
Vorschlag Straftäter nach Afghanistan abschieben -> unsere Reaktion: Geht nicht, weil… Wo ist unser konkreter Gegenvorschlag?
Vorschlag Rentenalter zu erhöhen -> unsere Reaktion: Geht nicht, weil… Wo ist unser konkreter Gegenvorschlag?
Das muss unsere Debatten prägen, es hebt sie auf ein anderes Niveau und vermittelt Fachkompetenz. Auch weicht man dadurch weniger Themen aus.
Die Diskussionskultur ist rauer geworden. Dabei müssen wir auch uns selbst hinterfragen. Der Vorwurf, etwas sei rechts, rechtspopulistisch oder rechtsextrem stumpft ab. Das sehen wir eindeutig. Er stumpft auch ab, da wir ihn in vielen inhaltlichen Debatten zu inflationär benutzen. Ob beim Klima, bei der Verteidigung, Gesellschaftspolitik, Innere Sicherheit, Migration und bei vielen weiteren Themen werden Positionen, die wir nicht teilen so bezeichnet oder es wird eine Nähe hergestellt. Das hilft nicht und es schadet zudem auch von unserer Seite der Diskussionskultur. Denn so schaukelt sich der Kulturkampf hoch.
Ob es in Wahlkämpfen klug ist, als Hauptbotschaft die Gefährlichkeit der AfD herauszustellen, was dazu führt, dass weniger innerhalb der demokratischen Parteien über Inhalte und Lösungsstrategien diskutiert wird und sich der Wahlkampf um die AfD dreht, wage ich zu bezweifeln.
7. Verbindung Person-Politik:
Ich sprach über zu wenig fachliche Tiefe und eine fehlende Vision. Die Fußstapfen von Annalena Baerbock und Robert Habeck im Parteivorsitz, die Partei und Wählerschaft auch über persönliches Charisma begeistert haben, waren groß. Sie sind in ihre aktuellen Ämter hineingewachsen, stehen vor großen Herausforderungen in Anbetracht ihrer eigenen Ansprüche und versuchen Dilemmata zu erklären. Annalenas Stärke ist ihre akribische Vorbereitung und ihre Liebe zum Detail. Roberts Stärke ist es, immer wieder das Große Ganze darzustellen und es dann konkret herunterzubrechen. Beides braucht eine Partei. Und das fehlt mir in der Kommunikation der Bundespartei aktuell ausdrücklich.
Wir haben eine Person, die glaubwürdig Sozialpolitik verkörpern kann mit dem Blick der jüngeren Generationen und eine Person, die unheimlich viel Erfahrung im Bereich der Außenpolitik mitbringt. Doch selbst in den Paradebereichen nehme ich zu oft Floskeln, allgemeine Antworten und keinen inhaltlichen Tiefgang wahr. Die Bundespartei muss sich fragen, ob man nicht die Zahl der Köpfe, die prominent Debatten führen erhöht z.B. durch Landesminister:innen oder fachpolitische Abgeordnete, erhöht oder man auch in der Bundespartei Themen besser aufteilt und somit jeweils in einer Person mehr Expertise sammelt.
Klar ist: Es muss sich etwas ändern.
Wir haben gut 15 Monate Zeit bis zur nächsten bundesweiten Wahl. Doch die nächsten Herausforderungen der Bundesregierung stehen bereits vor der Tür. Ob es ein Weiter-So gibt oder ob Lehren gezogen werden, wird sich also schnell zeigen. Wir müssen diese Diskussion führen und gerade wir Jüngeren müssen sie anstoßen.
Die von mir ausgeführten Punkte stellen keine vollumfängliche Erklärung dar. Sie sollen zum selbstkritischen Nachdenken und Diskutieren anregen.